Einen Tag lang begleitete Der Nordschleswiger die Ekensunderin Silke Schultz zur Strahlenbehandlung nach Vejle. Krebspatienten aus Nordschleswig müssen erhebliche Strapazen in Kauf nehmen. Hat die Politik vielleicht doch noch ein Einsehen?

Der Verkehr fließt ungehindert, es ist nicht so viel los auf den Straßen heute Morgen. Silkes Handy läutet. Ein Bekannter möchte wissen, wie es ihr geht. „Gut, bin gerade auf dem Weg nach Vejle, mit Begleitung.“

Mit Begleitung – das scheint den Anrufer zu beruhigen. Seit vier Wochen legt die vierfache, an Brustkrebs erkrankte Mutter täglich die Strecke Ekensund – Vejle – Ekensund mit dem eigenen Auto zurück, um sich einer notwendigen Strahlentherapie zu unterziehen. Meist sitzt jemand neben ihr. Das gibt ihr Halt, sagt sie.

Fünf Tage hat Silke Schultz noch vor sich, dann kann sie unter die täglichen Fahrten nach Vejle einen lang ersehnten Schlussstrich ziehen. Frühmorgens bin ich in Rothenkrug zu ihr ins Auto gestiegen, möchte sie heute begleiten, um mir einen Eindruck darüber zu verschaffen, was es für einen kranken Menschen bedeutet, für eine 10- bis 15-minütige Behandlung jeden Tag über 200 Kilometer zurücklegen zu müssen.

Es gibt eine Vorgeschichte, erzählt sie mir, nachdem sie das Telefonat beendet hat. Auch die zu kennen sei wichtig. Vor zwei Jahren erkrankt ihr zweitjüngster Sohn Felix schwer. Chronisches Nierenversagen. Nach der akuten Einweisung ins Krankenhaus in Fredericia folgen Wochen und Monate der bangen Ungewissheit.

Mehrmals wird Felix in andere Krankenhäuser verlegt, täglich fährt Silke entweder allein oder mit ihrem Mann zu ihrem kranken Sohn, der schließlich – nach einem Vierteljahr – aus ärztlicher Obhut entlassen wird und zurück zu seinen Eltern zieht. Dreimal wöchentlich Dialyse in Sonderburg, damit muss der 20-Jährige bis heute leben.

Ende 2016 dann verliert Silkes Mann seinen IT-Job. Zu dem Zeitpunkt hat sie bereits eine dumpfe Ahnung, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Die linke Brust fühlt sich irgendwie anders an. Der Gang zum Arzt kommt ihr jedoch nicht in den Sinn.

Sie kann es sich nicht leisten, jetzt krank zu werden, redet sie sich ein. Ihre Familie braucht sie, braucht ihr Einkommen. Eine Untersuchung kann, nein, muss warten. Es ist eine Entscheidung, die sie später teuer zu stehen kommen wird. Anfang 2018, als in der Familie langsam wieder so etwas wie Normalität einzukehren beginnt, hat es mit dem Aufschieben ein Ende. Die Ärzte konfrontieren sie mit dem Krebsbefund. Aus der dumpfen Ahnung ist mittlerweile ein 8,8 cm großer, bösartiger Knoten geworden, der in die Lymphdrüsen gestreut hat.

Nach einer 24-wöchigen Chemotherapie in Sonderburg wird sie zweimal in Apenrade operiert, die Brust muss vollständig amputiert und die Lymphknoten müssen entfernt werden. Danach folgen 25 Bestrahlungen in Vejle.

Sie hätte sich wie viele andere gewünscht, die Strahlenbehandlung im Flensburger St.-Franziskus-Krankenhaus machen zu können, wäre sogar bereit gewesen, für die Mehrkosten von 7.000 Kronen aufzukommen, doch die Politik hat gegen sie und andere Krebspatienten in Nordschleswig entschieden.

„Wenn es nur die Autofahrt wäre,

aber es kommen ja so viele erschwerende Umstände hinzu.“

Ende 2016 hob der Regionsrat für Süddänemark nach 18 Jahren die Zusammenarbeit mit Flensburg auf, durch die etwa 3.000 Patienten große Strapazen erspart blieben, denn sie mussten statt drei Stunden nur eine knappe Stunde Autofahrt in Kauf nehmen.

Aber gegen Flensburg sprachen aus politischer Sicht auf einmal unausgelastete Kapazitäten in Vejle und das Argument, dass sich keine deutschen Patienten im Gegenzug in Süddänemark behandeln lassen würden.

Schwerkranken Menschen kann man also drei, wenn nicht noch mehr Stunden tägliche Autofahrt zumuten, so der Schluss, den man aus der Entscheidung des Regionsrates ziehen muss. Doch kann man das wirklich?

„Nein“, sagt Silke. „Wenn es nur die Autofahrt wäre, aber es kommen ja so viele erschwerende Umstände hinzu. Der Verkehr fließt nicht immer so wie heute, man gerät zu den Stoßzeiten auch mal in einen Stau. Manchmal gibt es Baustellen und Umleitungen auf der Strecke, dann die quälende Parkplatzsuche am Krankenhaus. Es gibt Schlechtwettertage mit Regen, Nebel und im Winter vielleicht Schnee und Eisglätte.

Die Tage werden jetzt kürzer, viele Menschen sind ungern im Dunkeln unterwegs. Bei gesunden Menschen verursacht so etwas ja schon Stress. Für Menschen, die sich aufgrund einer lebensbedrohlichen Krankheit gerade in einer schweren Krise befinden, ist es eine absolute Zumutung.“

Über das Personal im Krankenhaus wolle sie sich gar nicht beschweren, die seien alle sehr nett und bemüht. Aber es komme vor, dass Termine einfach so geändert würden. Noch so ein erschwerender Faktor.

„Man bekommt dann einen neuen Terminplan in die Hand gedrückt. Darin heißt es z. B.: Komme morgen bitte statt um 10 Uhr um 18 Uhr. Gestern Abend, da hatte ich so einen späten Termin und war erst gegen 20 Uhr wieder zu Hause. Heute muss ich bereits wieder um 10 Uhr in Vejle sein. Manchmal gerät durch die kurzfristigen Terminänderungen seitens des Krankenhauses meine eigene Planung völlig durcheinander. Alles verschiebt sich nach hinten. Die täglichen Besorgungen, die Mahlzeiten, alles.“

Und warum nutzt sie zur eigenen Entlastung nicht das Angebot der Flextaxi-Patientenbeförderung oder verbringt mal eine Nacht im Patientenhotel in Vejle, wenn die Behandlungen zu eng terminiert sind?

Beim Flextaxi brauche es Zeit, so Silke, um morgens die Patienten – meist würden ja mehrere Patienten in einem Taxi oder Kleinbus befördert – an verschiedenen Orten aufzulesen und später wieder an ihrem Wohnort abzusetzen. Von dem mitunter langen Warten auf das Flextaxi nach der Behandlung ganz zu schweigen. Mit dem eigenen Auto sei man unabhängiger, könne gleich nach der Behandlung nach Hause fahren. So spare man viel Zeit. Zeit, die man dringend brauche, um vor dem nächsten Termin wieder einigermaßen zu Kräften zu kommen.

Und Patientenhotel? Ja, vielleicht im äußersten Notfall, aber optimal sei das nicht. Ein kranker Mensch brauche die Nestwärme und Geborgenheit der eigenen vier Wände, um aufzutanken. Die Nächte allein in einem anonymen Hotelzimmer zu verbringen, da hole einen das Grübeln über die Endlichkeit des Seins womöglich wieder ein. Dann schon lieber die Strapazen der langen Fahrt auf sich nehmen, um abends wieder bei der Familie zu sein. Das baue einen mehr auf.

Wir sind am Krankenhaus in Vejle angekommen. Nach etwa 15 Minuten im Wartezimmer der Radiologie wird Silkes Name aufgerufen. „Komm mit“, sagt sie. Ich folge ihr in den Bestrahlungsraum, sehe, wie sie ihren vernarbten Oberkörper freimacht, sich auf die Pritsche legt, wie ihr eine Nasenklammer aufgesetzt und ihr ein Mundstück angelegt wird.

Wenn gleich alle anderen den Raum verlassen, wird sie allein mit der technischen Apparatur zurückbleiben – total abgeschottet von der Außenwelt. Über Kameras hat das Personal sie im Blick und steht über ein Mikrofon mit ihr in Verbindung. Zunächst wird gescannt, dann soll sie während der Bestrahlung in mehreren Phasen die Luft bis zu 35 Sekunden lang anhalten. Dadurch werden die inneren Organe geschont. Als Flötistin kennt sie sich mit Atemtechniken aus. Wenigstens das.

„Kranke Menschen brauchen keinen Stress.

Kranke Menschen brauchen Ruhe, um Kraft zu tanken und wieder gesund zu werden.“

„In den vergangenen vier Wochen habe ich mehrmals erlebt, dass es technische Probleme gab und die Behandlung mittendrin abgebrochen werden musste“, erzählt mir Silke, als sie nach zehn Minuten wieder im Wartezimmer erscheint. „Ich musste mich dann wieder anziehen und in ein anderes Gebäude laufen, um dort behandelt zu werden.

Wieder müssen Geräte hochgefahren, muss noch mal alles eingestellt werden. So etwas kann natürlich in jedem Krankenhaus passieren, klar. Aber zählt man solche Probleme zu den übrigen erschwerenden Umständen hinzu, dann kommt für uns Krebspatienten, die eine weite Anreise in Kauf nehmen müssen, über den Tag verteilt schon einiges an Stress zusammen, wenn die Dinge nicht völlig glatt laufen. Kranke Menschen brauchen keinen Stress. Kranke Menschen brauchen Ruhe, um Kraft zu tanken und wieder gesund zu werden.

Durch die Strapazen des täglichen Pendelns wird uns diese Möglichkeit geraubt. Viele von uns haben zudem eine anstrengende Chemotherapie hinter sich, die noch körperlich und seelisch nachwirkt. Dadurch sind wir ohnehin nicht so belastbar.“

Kurze Ess- und Trinkpause in der Cafeteria, dann geht es wieder zurück zum Auto. Es steht ganz in der Nähe. Heute lief zumindest bei der Parkplatzsuche und mit der Technik alles glatt. Silke wirkt ruhig, gelassen, aus ihrem breiten, ansteckenden Lächeln spricht Erleichterung darüber, dass es überstanden ist, zumindest für den Moment.

Wie schafft sie das alles? Wie schafft sie es, trotz aller Unwägbarkeiten nicht ins Straucheln zu geraten, sondern aufrecht durch eine schwierige Lebensphase zu gehen und – im Rahmen des Möglichen – sogar ihren Beruf als Musikerin auszuüben?

Hätte sie nicht ihre Familie und ihre Freunde gehabt, die sie abwechselnd bei den täglichen Fahrten begleiten, sie wäre schon längst durchgedreht, sagt sie. Und die Musik, die sie damals in ihrem Elternhaus in Erfurt noch heimlich „unter der Bettdecke“ praktizieren musste, weil sie als brotlose Kunst galt, und die später zu ihrem Beruf wurde – die helfe ihr natürlich auch.

Durch das Musizieren sei für sie vieles leichter zu ertragen, es würden dabei Energien freigesetzt, die heilsame Kraft hätten, ist sie überzeugt. Im Grunde wolle sie sich gar nicht beklagen. Obwohl es ihr schlecht gehe, gehe es ihr ja noch vergleichsweise gut.

„Mit meinen 52 Jahren bin ich noch relativ jung. Ich erfahre viel Rückhalt, fühle mich von meinem Umfeld getragen. Ich möchte nicht wissen, wie krebskranke Menschen, die 10 oder 20 Jahre älter sind als ich oder vielleicht nicht das Glück haben, Freunde oder Verwandte unterstützend an ihrer Seite zu haben, mit diesen täglichen Fahrten nach Vejle zurechtkommen. Wie sehr würde ich mir für diese Menschen wünschen, dass die Politik wieder ein Einsehen hat.“

Der lange Weg nach Vejle

Zur Auswahl standen z. B. der schnellste Weg über die Autobahn 114,6 km – 1 Stunde 17 Minuten oder der kürzeste Weg 103,5 km – 2 Stunden 11 Minuten. Alles sorgfältig ausgerechnet von „krak”. Silke Schultz entschied sich für die schnellste Strecke, die sich durch Staus, Sperrungen, „Elefantenrennen”, Berufsverkehr, Parkplatzsuche usw. als doch nicht so schnell herausstellte.

Die Termine für ihre 25 Behandlungen sind über den Tag verteilt. Von 9 bis 18.10 Uhr ist so ziemlich alles vertreten. Es gibt keinen festen Rhythmus. Da gerät die Planung eines sogenannten Alltages schnell zur organisatorischen Meisterleistung.

Die Sonne bricht sich gerade ihren Weg durch eine graublaue Wolkendecke und lässt die Wälder zu beiden Seiten der Autobahn in herbstlichen Farben leuchten. Wir befinden uns im Daueraustausch, merken gar nicht, wie schnell die Kilometer dahinschmelzen. Wäre Silke allein unterwegs, wäre das sicherlich anders.

Deshalb ist Begleitung so wichtig. Ich erinnere mich an meine Fahrten nach Odense ins dortige Krankenhaus mit meinem krebskranken Vater und an das, was in seinen Augen durchschimmerte, wenn er sich nach vielen Stunden im Auto todmüde und erschöpft in den heimischen Sessel fallen ließ: Danke, dass du mitgekommen bist. Undenkbar, dass er in seinem Zustand diese „Behandlungsreisen“ allein hätte bewerkstelligen können.

Noch 20 Minuten etwa, dann sind wir wieder dort, wo wir uns heute Morgen zum ersten Mal begegnet sind. Eine letzte Frage brennt mir auf der Seele.
Bereut sie, dass sie damals nicht zum Arzt ging, als sich die ersten Anzeichen einer Erkrankung bemerkbar machten? Vielleicht wäre ihr dann einiges erspart geblieben. Die zermürbenden Fahrten nach Vejle etwa, oder die Narben an der Stelle, wo einmal eine Brust war.

„Ich bereue nichts“, sagt sie. „Es ist, wie es ist. Ich hätte mich damals nicht anders entscheiden können. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was gewesen wäre, wenn ich schon 2016, als mein Sohn so schwer erkrankte, Krebspatientin geworden wäre. Ich glaube nicht, dass unsere Familie das auch noch ausgehalten hätte, nach allem, was bis dahin schon passiert war.

Ich hadere nicht mit meinem Schicksal. Ich lebe bewusster, nehme bestimmte Dinge nicht mehr so wichtig, freue mich, wenn ich Menschen mit meiner Musik erreichen und berühren kann. Nein, ich mache mir keine Vorwürfe. Dafür ist das Leben ohnehin zu kurz.“

Morgen muss sie wieder los. Nur noch ein paar Tage, dann ist es überstanden. Für andere fängt das tägliche Pendeln nach Vejle in die Radiologie gerade erst an.

Quelle: https://www.nordschleswiger.dk/de/nordschleswig-sonderburg/behandlung-vejle-absolute-zumutung